Zappa kostete nur 100 Mark

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Pop, November 1968


Für 100 Mark Aufwandsentschädigung und 35 Mark Taschengeld pro Tag kamen Frank Zappa’s «Mothers of Invention» drei Tage nach Essen. Kein Künstler erhielt mehr. Und es kamen doch noch Julie Driscoll, die Fugs, die Family, Alexis Korner. Andere liessen sich lieber entschuldigen, obwohl sie schon die Programmankündigung schmückten: Donovan, die Pink Floyd, die Move, Dunja Rajter, Pete Seeger, Fausto Amodei, Wolfgang Neuss. Initiator Rolf-Ulrich Kaiser (25) hatte die Stars einfach durch Bittbriefe nach Essen geholt. Wo er direkten Kontakt zu den Künstlern bekam, verzichteten sie auf Gage und sagten zu. Wo er an die Manager und Agenten gelangte, erhielt er einen Korb.

Das Publikum

Müde war Erich gerade aufs feuchte Heu gefallen, das 1000 jungen Leuten im Baldeney-Camp als kostenloses Lager diente, da weckte sie ein bärtiger Jüngling. «In dieser revolutionären Zeit ist Schlafen eine Schande!» schrie er. Darüber diskutierte man, bis die Sonne über dem Lagerfeuer aufging. Elf Zelte weiter hauste die Berliner «Horror- Kommune», die Deutschland seit bald zwei Jahren mit Schlagzeilen versorgt. Doch sie verliess während der Essener Song-Tage nicht einmal ihren Wigwam. Die «Hotcha!»-Sippe aus Zürich und die «Link-eck-Kommune» aus Berlin riefen unermüdlich ihre Untergrund-Zeitungen aus. Ein schwarzhaariges Mädchen lief suchend hin und her. «Suchst Du jemand? » – «Ja, mich.» Ein Münchner setzte einen Armvoll druckfrischer Haschisch-Kochbücher ab. Ein Holländer von der U-Zeitung «Ox» bat um einen stillen Raum, in dem er sich auf seine Yoga-Übungen konzentrieren könne.

40 000 Eintrittskarten wurden verkauft. Die Essener Song-Tage wurden zum ersten grossen Untergrund-Festival der Welt. Und voraussichtlich zum letzten!

Die Presse

Mitten im grossen Protestkonzert sprang ein langhaariger junge ans Mikrofon: «Ich möchte etwas zu den Machenschaften des Fernsehens sagen, das Leute mit langen Haaren in eine Ecke drängen will, damit der Eindruck entsteht, dass es hier nur langhaariges Publikum hat.» Bei jedem Moment unmittelbaren Protestes schalteten die Kameras jedoch aus. Drei Uebertragungen von den Song-Tagen brachte jede deutsche Fernsehanstalt. Wenn man diesen Berichten glauben wollte, gab es in Essen nur entrückte Flötisten, Glockenspieler und exzentrische Mädchen. Dafür kriegte die Hälfte des Publikums in den Veranstaltungen kaum mehr zu sehen als den Rücken eines Kameramannes. Ein Wochenschau-Reporter seitlich umher, der die Mädchen nur aus heimtückischer Perspektive unter den Rock filmte.

In der grössten Ruhrgebietszeitung «WAZ» wurde über das Festival tagtäglich mit Ausdrücken berichtet wie «Behagen an reinen Saufereien», «Die Hippies entschieden sich für Geschrei», «Haben die im Anstandsunterricht nur gelernt, wie man Frauen auf den Hintern klatscht und an den Busen geht?», «Lärmscham» … Nicht eine Zeitung berichtete freundlich.

Die Essener

Frank Zappa, Boss der «Mütter der Eingebung», sass schon im Düsseldorfer Flughafen, ehe die anderen «Mothers» eintrudelten. Mit eigenen Ohren konnte er hören, wie eine Ground-Hostess einem Reporter erklärte: «Gleich kommt so eine Art Beatles aus Amerika.» In einem Kaufhaus, wo Fugs-Chef Ed Sanders einen Pullover suchte, schrie eine Essenerin «Ihr Schweine!» Am Sonntag zogen brave Essener Bürger dann mit Kind und Kegel vor die Gruga-Halle, um Langhaarige zu bestaunen. Im «Schinkenkrug», dem einzigen Speiselokal bei der Gruga-Halle, baute sich der Wirt persönlich mit seinem Schenkkellner am Eingang auf und wies jeden langhaarigen Jugendlichen ab. Angeblich wegen Platzmangels.

Obwohl die grosse Gruga-Halle für die Song-Tage gemietet war, setzte ihnen die Stadt schnell noch die Sammy-Davis-Show hinein. 7000 Sammy-Davis-Besucher hinterliessen ihre Spuren; die Pop-Jugend musste sie erst beseitigen. Fortwährend brannten Sicherungen durch, doch die Elektriker, die in der Saal- miete inbegriffen waren, genossen Urlaub. Amateure mussten sich an die Bühnen-Scheinwerfer setzen. Rolf-Ulrich Kaiser: «Es gibt Kreise in dieser Stadt, die gegen die Veranstaltung des Festivals waren.» Doch leider floss Wasser auf die Mühle dieser Leute: Unter Ausschluss der Oeffentlichkeit wollten die Oberhäupter der Stadt die Protest-Sänger des Festivals zu sich laden. Prompt stürmte die ungebetene Anhängerschar der Protester den Saalbau. Sie plünderten das Küchenbüffet‚ griffen nach dem Freibier und warfen mit Bierdeckeln nach dem Oberbürgermeister. Das 71jährige Stadtoberhaupt verstand die Welt nicht mehr. Immerhin hatte er 300 000 Mark aus dem Stadtssäckel geliehen, um das Festival zu sichern.

Die Apostel der Gesellschaftserneuerung rieben sich die Hände. «Erfolgreich umfunktioniert» nannten sie ihre gemeine Sabotage an den Essener Song-Freuden. Der in München lebende Dr. Rolf Schwendter, ein mittelalterlicher Protestierer, verfasste «im Namen von zwei Diskussionskreisen» Thesen zur Gestaltung eines Untergrund-Festivals. Bezeichnender Satz daraus: «Im Programm der IEST waren für Diskussionen und Vorträge 7 Stunden, für musikalischen Konsum jedoch über 50 Stunden vorgesehen. Dagegen ist es erforderlich, in Zusammenarbeit der Veranstalter, Theoretiker, Künstler und Zuhörer eine kontinuierliche Analyse der musikalischen Geschehnisse zu leisten und dafür hinreichend Zeit in der Veranstaltungsplanung zur Verfügung zu stellen . . .» In Deutsch: Er möchte lieber 50 Stunden Diskussion über sieben Stunden Pop-Musik.

Die Organisatoren

Typische Szene beim ersten Auftritt der Fugs: Vor dem Saal stauten sich Einlassbegierige, obwohl schon lange ausverkauft war. Plötzlich gerieten zwei einander in die Arme. «Gehn Sie jetzt weg hier von der Türe!» herrschte der eine den andern an. Dieser: «Aber ich bin doch der andere Türwächter!» Die Saalordner – auch sie arbeiteten ehrenamtlich – nahmen sich dafür gern über Gebühr wichtig. Bei dem Bühnenauftritt von Alexis Korner zum Beispiel zählte ich 81 Leute, die ständig auf der Bühne herumlehnten. Von den vier Musikern war kaum noch etwas zu sehen.

Das Organisationskomitee der Song-Tage bestand aus einer Handvoll Idealisten, denen die Organisation über dem Kopf zusammenschwappte. Neun Monate lang arbeitete der Werbepsychologe Martin Degenhardt an der Vorbereitung mit. Als er sich seine Tagesspesen holen wollte, fragte IEST-Hostess Liane Lichius ihn freundlich aber bestimmt: «Wer sind Sie eigentlich?» Niemand dankte es den Organisatoren, dass sie trotz ihres mangelnden Talents für’s Managen ein ansehnliches Festival auf die Beine gebracht hatten. Im Gegenteil. Linke «Umfunktionierer» warfen ihnen vor, dass Rolf-Ulrich Kaiser und andere am Festival reich werden wollten. Was ganz undenkbar ist: Der Geschäftsführer, der sich ab März hauptamtlich auf das Festival konzentrieren musste, erhielt für diese Arbeit im Monat – netto 360 Mark. Saalmieten, Unterkünfte und Fahrtkosten für 200 Künstler aus aller Welt, auch wenn sie kostenlos auftreten, und 50 Ordner, auch wenn sie gratis boxen, kosteten trotzdem mehr, als ursprünglich veranschlagt war: statt 120 000 Mark 300 000 Mark.

Die Musiker

An jedem Vormittag luden die Essener Song-Tage zu einer Diskussion mit Musikern ein. So konnte man von Alexis Korner, dem nahezu schon sagenhaften Urheber des Blues Revival, im neuesten Chris-Howland-Deutsch hören: «Ich bin nach Deutschland gekommen, weil man hier Sacher machen kann, die in England schon gemacht sind.» Tuli Kupferberg, Texter und Hofnarr bei den Fugs: «In Amerika haben wir die Entwicklung, dass politischer Protest von der Lebensform nicht mehr zu trennen ist. Wir wollen immer etwas machen, vor dessen Folgen wir ein bisschen Angst haben. Dann ist es richtig.» Frank Zappa: «Musik sollte nicht als Werkzeug für Botschaften benützt werden, sondern als Ausdrucksmittel. Braucht man Worte, um Musik zu erklären?»

Bilanz

Vor dem Essener Jugendzentrum stand eine Grüne Minna, wie der Mannschaftswagen der Polizei hierzulande heisst. Er diente jedoch nicht dazu, Teilnehmer der Song-Tage zu verladen, sondern die Polizei lieh ihn den Veranstaltern als Nachrichtenzentrale. Im Polizeibericht heisst es zum fünftägigen Festival: «Alle aus Anlass der Essener Song-Tage (IEST 68) in den Bereichen SB I und II gemäss Programm geplanten Veranstaltungen verliefen ohne nennenswerte Vorkommnisse.» Trotzdem: «Es war wahrscheinlich das erste und letzte Festival überhaupt», sagte Rolf-Ulrich Kaiser, «daran sind die linken Tölpel schuld.»

Die Gruga-Halle musste zunächst einmal für die 7. Internationale Rassehunde-Ausstellung geräumt werden.