Wahlverwandtschaften
By Karl Lippegaus
Welten lagen zwischen Pierre Boulez und Frank Zappa. Und doch kamen sie zu einem gemeinsamen Projekt zusammen.
Es gab mehr als nur einen Wesenszug, der Boulez und Zappa verband, aber erstmal war es der Zorn. Als er bei Messiaen Harmonielehre studierte, bezeichnete der junge Boulez (Jahrgang 1925) dessen „Turangalila“-Sinfonie als „musique de bordel“. Vorher war der auch in Chemie, Physik und Mathematik hochbegabte Pierre nach dem Abitur an der Aufnahmeprüfung für Klavier des Konservatoriums von Saint-Etienne gescheitert. Und auch das staatliche Konservatorium in Paris verweigerte ihm ein Klavierstudium.
Frank Zappa (Jahrgang 1940) war ein kränkelnder, blasser Junge, der wegen seiner italoamerikanischen Abstammung ständig gehänselt wurde. Bedingt durch die Jobsituation seines Vaters wechselte er mit seiner Familie ständig Wohnort und Schulen – mit dem Resultat, überall rauszufliegen. Der introvertierte Autodidakt entwickelte früh einen chronischen Hass auf alles, was mit Autoritäten zusammenhing: Schule, Erziehung, Politiker und akademisch ausgebildete Musiker.
Frank war fünf Jahre alt, als Pierre durch seinen Lehrer René Leibowitz mit der Zwölftonmusik Schönbergs vertraut wurde, ein Jahr später entstand Boulez erste Sonate für Klavier. Währenddessen verdiente er seinen Lebensunterhalt damit, in den Folies Bergère mit einem merkwürdigen Musikinstrument, den Ondes Martinot, einer Art Synthesizer-Vorläufer, für Unterhaltung zu sorgen.
Zwischen 1953 und 1955 schrieb Boulez „Le marteau sans maître“. Um diese Zeit entdeckte Zappa durch den Kauf einer LP die Musik von Edgard Varèse. Zwei Jahre später kaufte er sich seine erste Boulez-LP mit der Einspielung des Meisterwerks durch Robert Craft. Weil Boulez niemanden fand, der seine Musik dirigieren konnte, tat er es selbst, „anfangs noch sehr unbeholfen“ – wie bald auch Zappa. Sehr rasch gewannen beide dank ihrer Kompetenz den Respekt von Musikern aller Sparten.
Während Boulez zu einem der gefragtesten Dirigenten weltweit aufstieg, experimentierte Zappa mit den Mothers of Invention in Los Angeles. Kurz nach dem Erscheinen der beiden Meilensteine „Freak Out“ und „Absolutely Free“ der Mothers gelang Boulez der Durchbruch als Dirigent in den USA, vor allem mit dem Cleveland-Orchester, dem er bis an sein Lebensende eng verbunden blieb. Als Kulturminister André Malraux 1962 den traditionellen Komponisten Marcel Landowski statt Boulez zu seinem engsten Musikberater wählte, war Letzterer tief verletzt und floh ins Exil nach Baden-Baden.
Zappa hasste Hippies und Drogen, verabscheute Alkohol und hätte sich köstlich amüsiert, als Boulez noch 1996 öffentlich über Malraux herzog: „Eine Redemaschine. Eine Null im Handeln. Immer zwischen Haschisch-Wolken oder Champagner, nie fähig, eine Entscheidung zu treffen.“ Ganz nach Franks Geschmack, dieser Pierre, der auch de Gaulle und Pompidou im „Spiegel“ noch nach Jahren mit Spott überhäufte, als ihm die größten Musentempel der Welt ihre Pforten öffneten. 1967 hatte Boulez Paris als „Ghetto voller Scheiße und Staub“ bezeichnet, das man eigentlich „dynamitieren“ sollte. Zappa hätte dem Bürgerschreck laut Beifall geklatscht.
1976 gründete Boulez das Ensemble Intercontemporain, und Zappa war auf dem Gipfel seiner Kreativität, Werke entstanden, die Grenzen sprengten. 1977 wurde – von Boulez initiiert und angekoppelt ans Centre Pompidou – das IRCAM gegründet, ein weltweit einmaliges Forschungszentrum und Labor für elektroakustische Musik, das Millionen an Subventionen verschlang. Zappa, der das Studio immer als Klanglabor begriffen und genutzt hatte, muss endgültig hellhörig geworden sein. Zwei Jahre später sorgte Boulez mit „Lulu“ in der Inszenierung von Patrice Chéreau für einen Riesenskandal, wieder ganz nach dem Geschmack des Tabubrechers Zappa. „Wir müssen die Subversion ins Innere der Organismen, auch der musikalischen, bringen, statt sie für sich zu behalten und stolz darauf zu sein, saubere Hände zu haben.“ Sagte Boulez, nicht Zappa, 1974 in „Le Monde“.
Nach einem desaströsen Konzert in Palermo im Juli 1982 konzentrierte sich Zappa zwei Jahre lang auf seine klassischen Projekte. Was er auf dem Gebiet der sogenannten „seriösen Musik“ schuf, war für ihn genauso gut wie das, was andere Komponisten taten. Bis dahin hatte er allerdings ziemlich viel Pech damit gehabt. „Neue Musik zu schreiben ist ein guter Weg, um Geld zu verlieren“, schreibt er in seinem Real Frank Zappa Book. 1976 hatte er 125.000 Dollar verloren, als ein geplantes Konzert mit den Wiener Sinfonikern wegen zu geringer Finanzierung platzte. 1980 passierte ihm Ähnliches in Den Haag, wo er noch mal 100.000 Dollar verlor, und mit zwei polnischen Orchestern. Mit dem Orchester der BBC hatte er schon 1968 in der Royal Albert Hall gearbeitet, aber die ganze Entourage war zwanzig Mal größer als die einer Rockband und für die nächsten fünf Jahre ausgebucht.
Der Strawinsky-Fan Zappa hatte über ihre Einspielung von „Le Sacre du Printemps“ mit Boulez gestaunt und bekam gute Kontakte zum London Symphony Orchestra; dessen 107 Musiker entschieden selbst, mit welchen Komponisten sie arbeiten wollten. Als Frank seinen Draht zum LSO ans Glühen gebracht hatte, brauchte er nur noch einen Dirigenten. Da fiel ihm Boulez ein, der Webern „zu simpel“ fand, Berg posthum für seinen „schlechten Geschmack“ geißelte, in Cage einen „Animier-Affen“ sah und Stockhausen „einen Hippie“ nannte. Frank hatte seine erste Boulez-LP mit siebzehn erstanden, ein Jahr später büffelte er die Partitur durch. Nach einem Zappa-Konzert 1980 in Paris, bei dem Boulez im Publikum saß, schickte ihm Frank eine Auswahl seiner klassischen Werke – mit der Frage, ob er Interesse habe sie zu dirigieren. Boulez antwortete, das sei unmöglich, er habe kein Orchester dafür in Paris. Doch halt – es gab ja das Ensemble Intercontemporain mit 28 exzellenten Musikern. Dann beauftragte er Zappa, für sie etwas zu komponieren, das sei einfach gut fürs Ensemble. Frank schrieb sofort sieben Tänze. „Der Stil ist grotesk unmodern.“
In dieser Zeit bekam auch Kent Nagano Wind von Zappas Aktivitäten, er besuchte sein erstes Rockkonzert – mit Ohrstöpseln – und zeigte sich überwältigt von dem Erlebnis. Nagano vermittelte zwischen Zappa und dem LSO – die Dinge kamen ins Rollen. Als er Zappas Partituren sah, staunte er, wie kompliziert sie waren.
Auf dem Zappa-Album „The Perfect Stranger“ sind drei live entstandene Stücke mit dem Ensemble Intercontemporain unter der Leitung von Pierre Boulez sowie Stücke, die Zappa selbst auf dem Synclavier eingespielt hat, basierend auf einem Konzert vom 9. Januar 1984 im Théâtre de la Ville in Paris, unter anderem mit der Weltpremiere des Titelstücks, das Zappa eigens für das Ensemble geschrieben hatte. Vom Konzert war der Perfektionist Zappa nicht gerade begeistert. Widerwillig ließ er sich von Pierre am Ende auf die Bühne zerren, um sich zu verneigen.
Die Arbeit mit Boulez war für Zappa kein Zuckerschlecken. Wie viele der anspruchsvollen Zappa-Kompositionen war die Musik für das Ensemble Intercontemporain unter hohem Zeitdruck und mit zu wenig Proben entstanden. Gleichwohl war diese Erfahrung für ihn eine große Bereicherung. Hätte der bereits Todkranke sonst gegen Ende seines Lebens so viel Zeit für die Arbeit an „Yellow Shark“ mit dem Ensemble Modern aufgebracht?